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Linguizismus & Jugendarbeit

Jede:r dritte Jugendliche und nahezu jedes zweite Kind wächst heute in Deutschland mit mehr als einer Sprache auf. Einige werden dafür beglückwünscht, andere erleben die Abwertung ihrer Sprachen oder Diskriminierung aufgrund ihres Akzents. Der Beitrag führt ein in die noch wenig beachtete Diskriminierung aufgrund der Sprache (Linguizismus) und verweist auf die damit verbundenen Auswirkungen auf Jugendliche und unsere Jugendarbeit.

Was ist Linguizismus?


Linguizismus bezeichnet Vorurteile, Geringschätzung oder Ablehnung gegenüber Sprachen und ihren Sprechern.

Linguizismus bedeutet damit Diskriminierung aufgrund der Sprache. Diese Sprachdiskriminierung ist eine Form des Rassismus, die in Vorurteilen und Abwertungen gegenüber Menschen, die eine bestimmte Sprache bzw. eine Sprache in einer durch ihre Herkunft beeinflussten besonderen Art und Weise verwenden, zum Ausdruck kommt.

Auf der persönlichen Ebene bedeutet Linguizismus Vorurteile bezüglich von Eigenschaften eines Menschen, die aus seiner gesprochenen oder geschriebenen Sprache abgeleitet werden. Dazu können zum Beispiel die Muttersprache, ein Dialekt oder auch der Akzent gehören.

Sprachdiskriminierung kann aber auch in negativem Verhalten gesehen werden, das in Situationen vorgebracht wird, wenn sich Menschen in der Öffentlichkeit in einer Minderheitensprache unterhalten. Auch in abwertenden Witzen über die Sprache eines anderen Menschen drückt sich Linguizismus aus.

Assoziationen und Vorurteile

"Die Sprache ist ein Fenster zum Innersten des Menschen, aber sie ist auch eine Schwachstelle, eine offene Wunde, durch die wir einer ansteckenden Welt ausgesetzt sind." Steven Pinker (The Stuff of Thought)


Sobald wir sprechen, geben wir etwas von uns Preis. Die gewählten Worte verraten vermeintlich vieles über unsere Persönlichkeit, aber vor allem wenn ein Akzent oder ein Dialekt in der Sprache wahrgenommen wird, können schnell und direkt Assoziationen über unsere Person wachgerufen werden, welche auf Stereotypen und Vorurteilen beruhen. In diesem Fall wird von einem Akzent Bias (engl. Accent Bias) gesprochen.

Mit der Einschätzung der Sprache werden gleichzeitig Assoziationen erweckt, welche auf früheren Erfahrungen und Stereotypen (oft z.B. über die Herkunftsländer oder Herkunftsregionen) der Sprachen basieren. In der Folge können diese unsere Wahrnehmung von, sowie unser weiteres Verhalten gegenüber der Person beeinflussen.

Gute Sprache / Schlechte Sprache – Hierarchisierung und Macht


Der Status einer Sprache hängt unweigerlich mit dem sozio-ökonomischen Status ihrer Sprecherinnen und Sprecher zusammen. So ist Spanisch z.B. in Deutschland eine gern gewählte und beliebte Fremdsprache, die man oft mit Urlaub, rhythmischer Musik und Entspannung assoziiert. In den USA, wo im Gegensatz zu Deutschland eine bedeutende spanischsprechende Diaspora beheimatet ist, wird sie in gewissen US-amerikanischen Kreisen verpönt, als Provokation wahrgenommen, hispanophone Menschen werden rassistisch beleidigt, wenn sie im öffentlichen Raum Spanisch sprechen.

Englisch, Französisch oder Spanisch werden durchaus geschätzt, aber Farsi, Kurdisch, Türkisch, Russisch oder Polnisch eher abgewertet. Selten wird z.B. positiv hervorgehoben, dass jemand Türkisch-Muttersprachler:in ist, weil Türkisch in der Institution Schule und in unserer Gesellschaft kein hoher Bildungswert zugesprochen wird.

Bestimmte Sprachen und Dialekte werden als klüger, statushöher und attraktiver gehalten, andere dagegen als ungebildeter oder unsympatischer.

Auswirkungen von Linguizismus

Sprachdiskriminierung führt zu ungleichen Chancen


Über viele Studien hinweg konnten Dialekte und Akzente, welche mit negativen Vorurteilen verbunden sind, mit niedrigeren Gehältern und geringeren Aufstiegschancen in Verbindung gebracht werden. Dies geschieht unabhängig von den Qualifikationen und Fähigkeiten der Person: Dialekte und Akzente beeinflussen unbewusst die Wahrnehmung der Kompetenz und Intellektualität einer Person.

Die Unterschiedliche Anerkennung der Sprache im Umfeld führt zu Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, beim Bewerbungsgespräch, oder im Job. Hier werden aufgrunde des sprachlichen Ausdrucks fachliche Qualifikation zu oder abgesprochen.

Umgekehrt können Akzente und Dialekte, welche positive Assoziationen wecken zu einem ebenso unbegründeten Bonus in der Wahrnehmung führen. In beiden Fällen werden also Entscheidungen getroffen, welche wenig mit den tatsächlichen Eigenschaften einer Person zu tun haben.

Linguistic Insecurity


Wenn immer wieder negative Reaktionen auf die eigene Sprache oder auf die eigene Art und Weise zu sprechen erfolgen, kann ein negativen Bilds der eigenen Sprache entstehen. Dieses kann tiefe Verunsicherung und andauerndes Unbehagen wegen der eigenen Art zu sprechen auslösen.

Die Abwertung der Muttersprache kann bei Kindern zur Folge haben, dass sie sich mit einem wichtigen Teil ihrer Identität nicht akzeptiert fühlen. Das kann bei Kindern wiederum zum Aufgeben ihrer Muttersprache führen, oder dazu, dass Eltern die eigene Sprache nicht weitergeben möchten. Beides ist eine verpasste Chance für die zukünftige Entwicklung des Kindes.

Monolingualität


Das Prinzip der Einsprachigkeit (Monolingualität) ist in Deutschland leider noch weit verbreitet: „Unsere Sprache“ ist die einzige legitime Sprache, die von „den anderen“ gelernt und auch gesprochen werden muss. Allein das Infragestellen dieses Vorrangs empört. Sätze wie: „Wir sind hier in Deutschland, hier wird Deutsch gesprochen“, zeigen Ängste vor dem neuen Fakt der Sprachenvielfalt und diskriminieren andere Sprachen und deren Sprecher:innen.

Außerdem basiert der „monolinguale Mythos“ auf der falschen Annahme, dass wir besser dran sind – und neuronal besser in der Lage sind -, nur eine Sprache zu lernen, anstatt zwei oder mehr.

„Die Idee davon, was Mehrsprachigkeit bedeutet und was sie mit dem Gehirn macht, hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Wer mehrere Sprachen spricht, hat nicht nur bei der Kommunikation Vorteile. Multilinguale Menschen sind sozial kompetenter und ihr Gehirn arbeitet effizienter.“ Fanny Jiménez


Global betrachtet ist Mehrsprachigkeit die Regel und nicht die Ausnahme. Etwa zwei Drittel aller Menschen auf der Welt wachsen in einem mehrsprachigen Umfeld auf.

Das Beharren auf dem „Prinzip der Einsprachigkeit“ ist oft die Legitimation für die Ausgrenzung und Abwertung von anderen Sprachen.

So wird zum Beispiel die deutsche Sprache oft selbstverständlich gleichgesetzt mit Sprache allgemein: da heißt es „Sprachförderung“ statt „Deutschförderung“, „Sprachproblem“ statt „geringe Deutschkenntnisse“.

Wo äußert sich Linguizismus?

Kita


Mehrsprachige Kinder treffen oft auf eine einsprachige Kita und damit auf einen „Zwang zur Einsprachigkeit“.

Mehrsprachige Kinder sind in der Kita kein Thema, solange sie gut Deutsch verstehen. Verstehen sie wenig Deutsch ist von einem Problem die Rede. Die einsprachigen Fachkräfte haben nämlich das Problem, dass ihre Fachkompetenzen nicht mehr passen. Das Drängen auf Einsprachigkeit ist häufig dem Dilemma geschuldet, in dem sich die Fachkräfte befinden, die mit mehrsprachigen Familien und Kindern zu tun haben. Um die Kinder adäquat zu fördern fehlt es an Knowhow und an den geeigneten Bedingungen.

Mit fünf Jahren, können Kinder überraschende Kompetenzen ausgebildet haben, sich mit vielen Sprachen durch sie hindurch zu bewegen, sich dieser Kompetenzen bewusst zu sein und sich selbst stolz als mehrsprachige Kinder zu sehen.

Mit fünf Jahren können Kinder bereits massive Erfahrungen mit Versagen und Ungenügen und Unterlegenheit gemacht haben, gerade im Hinblick auf ihre sprachlichen Kompetenzen. Die Gefahr ist, dass sie eingeschüchtert und unsicher sind und sich auf weitere Bildungsprozesse im Sinne lernender Weltaneignung nur begrenzt einlassen können.

Petra Wagner: Quer durch viele Sprachen hindurch – Vielgestaltigkeit der Sprachwelten von Kindern, in: Petra Wagner (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, Herder, 2023, S. 150-162, hier S. 162.

Schule


Auf gesellschaftlicher Ebene manifestiert sich Linguizismus in erster Linie in der einsprachigen Ausrichtung gesellschaftlicher Institutionen wie den Schulen. Menschen mit anderen Muttersprachen als Deutsch haben damit automatisch schlechtere Ausgangsbedingungen.

Sprecher:innen, die aufgrund von Migrationsgeschichten weitere Sprachen beherrschen, werden selten als zweisprachig wahrgenommen oder erfahren für diese Leistung kaum Anerkennung.

Vielen Muttersprachen werden sogar als ein Defizit abgewertet. Das öffentliche Ansehen dieser Sprachen (Sprachprestige) und folglich auch der Sprecher wird hier als geringer als Deutsch und anerkannte Bildungssprachen wie z.B. Englisch oder Französisch eingeschätzt.

Viele Schulen in Deutschland verstehen sich zudem nach wie vor als Institutionen sprachlicher Homogenisierung. Hier finden selbst verbreitete Herkunftssprachen wie Russisch, Türkisch oder Polnisch selten Raum. Dabei sind sich Expert:innen einig, dass das zum einen für die Identität der Kinder wichtig wäre, wenn ihre Sprache auch dort Wertschätzung erfährt zum anderen kann es ihnen auch berufliche Chancen eröffnen wenn sie ihre Familiensprache auf einem hohen Niveau beherrschen.

Abgesehen vom Fremdsprachenunterricht, ist Deutsch oft die einzige legitime Sprache. Im schlimmsten Fall werden die anderen Herkunftssprachen in der Schule sogar stigmatisiert und auch mal ganz gerne von Schulhöfen verbannt.

Linguizismus in der Jugendarbeit?


Auch in den Strukturen der Jugendarbeit erleben Jugendliche Linguizismus. Auch hier dominiert oft das unhinterfragte Prinzip der Einsprachigkeit. Wenn Sprachen jenseits des Deutschen lauter werden, reagieren auch manche Jugendzentren mit Regeln, die Deutsch als einzig legitime Sprache vorschreiben.

Auch im Jugendzentrum oder der Jugendgruppe werden andere Sprachen selten wahrgenommen oder gewürdigt und oft eher als Problem oder Barriere wahrgenommen. Sprachdiskriminierung kommt also leider auch in der Jugendarbeit vor, ist allerdings selten beabsichtigt. Hier kann Jugendarbeit mit einer höheren Sprachsensibilität nachsteuern.

Sprache und Macht


Eine sprachsensible Jugendarbeit erkennt, dass Sprache und Macht in grundlegender Weise miteinander verschränkt sind. Ohne Sprache und das Vermögen, sich mitzuteilen und verstanden zu werden, ist die persönliche Handlungsfahigkeit bedroht. Sprache ermöglicht es, erkannt und anerkannt zu werden. Sprache und Kommunikation sind nicht nur ein Instrument zur Verständigung, sondern auch Ausdruck sozialer Beziehungen. Jugendarbeit kann die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Jugendlichen auf verschiedene Weise ansprechen, aufnehmen oder auch ignorieren. Verantwortliche können dabei gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren oder bestrebt sein, sie zu überwinden.

„Die sollen doch Deutsch lernen!“


Oft wird aktive Mehrsprachigkeit mit dem Argument abgewiesen, dass die Neuzugewanderten ja „unsere Sprache“ lernen müssen und dass Übersetzungen, Visualisierungen und das Benutzen einfacher Sprache dafür eher kontraproduktiv seien. Dahinter steckt das Konzept „erst Sprache lernen, dann mitmachen“, welches in Deutschland weit verbreitet ist.

In Kanada dagegen hat man mit dem Gegenteil positive Erfahrungen gemacht: „Erst mitmachen, dadurch Sprache lernen“. Durch aktives Mitmachen entstehen Sprechanlässe und langfristig auch der sicherlich erstrebenswerte Spracherwerb. Sprachenvielfalt und einfache Sprache können ein „Dabeisein“ von Anfang an ermöglichen und Neuzugewanderten einen Einstieg in die Gesellschaft und möglichst frühzeitige Teilhabe ermöglichen. Das motiviert – auch zum Deutsch lernen.

Was kann man gegen Linguzismus tun?


Jugendarbeit kann mehrsprachigen Jugendlichen Raum und Anerkennung für ihre Sprachkompetenzen geben und damit der oft erlebten Diskriminierung aufgrund der Sprache entgegenwirken.

Vom Störfall zum Glücksfall


Die Sprachenvielfalt in einer Gruppe kann als Chance wahrgenommen werden. Natürlich ist Sprachenvielfalt zunächst für alle zeit- und energieaufwendiger. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass der Umgang mit Sprachenvielfalt schnell zur Normalität wird. Dabei kann der Umgang mit verschiedenen Sprachen, Kommunikationskanälen, Schriften und Ausdrucksformen sowie mit Missverständnissen,

Sprachlosigkeit und Nichtverstehen spielerisch gelernt werden. Die Jugendarbeit greift damit ein Thema auf, dem die Jugendlichen in der Gesellschaft in zunehmenden Maß begegnen. Denn die Zukunft der globalisierten Welt spricht viele Sprachen.

Sprachkompetenzen thematisieren


Uber Aufstellungen, Plakate, Einzel- oder Gruppenarbeiten kann man Sprachbiografien und Sprachkompetenzen in der Gruppe thematisieren: „Wer spricht mehr als vier Sprachen?“, „Wer hat schon langer in einem anderen Land gelebt?“, „Welche Sprache wird in der Familie gesprochen?“, „Wer hat eine Sprache in der Schule gelernt?“ etc. Manchmal überraschen die Antworten. Oft wird die Sprachenvielfalt in der Gruppe erst durch eine solche Thematisierung wahrgenommen und anerkannt.



Warum nicht alle wichtigen Orte und Dinge in Gebäuden und auf dem Gelände in allen Sprachen der Jugendlichen beschildern? Worte wie „Willkommen“ am Eingang oder „Restmüll“ auf dem Abfalleimer können ruhig in zehn, zwölf Sprachen und Schriften geschrieben sein. Dabei geht es weniger um Orientierung als um Anerkennung. Außerdem wird der Ort dadurch auch einladender für andere Jugendliche mit Migrationserfahrung, denn die vielen Sprachaufschriften zeigen nach außen: Hier ist Sprachenvielfalt normal.

Sprachenvielfalt hörbar machen


Um die natürliche Autorität von Sprecher:innen diverser Erstsprachen ins Rampenlicht zu rücken, kann man sie bitten, in ausgewählten Situationen oder Momenten in „ihrer“ Sprache zu sprechen. Gute Gelegenheiten sind zum Beispiel Begrüßungs- oder Vorstellungsrunden, bei Reflexionseinheiten oder „Wie geht es mir-Runden“. Für viele Jugendliche ist das Sprechen der „eigenen“ Sprache vor der Gruppe ungewohnt und gleichsam befreiend. Auch in einer Konfliktsituation kann die explizite Bitte, den Unmut in der eignen Familiensprache zu äußern, den Jugendlichen helfen, sich abzureagieren.

Sprachanimation


Die zentrale Methode der Sprachanimation ist das Spiel, denn spielerisches Lernen ist einfach und macht Spaß. Animation eignet sich für die Arbeit mit Jugendlichen unterschiedlicher Sprachen und Sprachniveaus. Ziel der Sprachspiele ist es, die verschiedenen Sprachen mit einer fröhlichen Leichtigkeit zu thematisieren, gegenseitig Interesse an den jeweiligen Sprachen zu wecken und Hemmungen beim Gebrauch von  Fremdsprachen abzubauen.

Reflexionsfragen für die eigene Praxis

  • Findet sich die Sprachenvielfalt der Jugendlichen in Eurer Öffentlichkeitsarbeit wieder?
  • Welche Regeln gelten bezüglich des Sprachgebrauchs bei Euch?
  • Bietet ihr Mehrsprachigkeit einen Raum?
  • Aktiviert ihr die verschiedenen Sprachen der Jugendlichen?
  • Nutzt ihr die verschiedenen Sprachen der Jugendlichen?

Ressourcen

Literatur

  • Olga Grjasnowa: Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt, Dudenverlag 2021

Video

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